Swiss Orchestra

Die Wiederentdeckung des musikalischen Erbes der Schweiz

Wer Lena-Lisa Wüstendörfer nicht kennt, verpasst etwas. Und erst recht, wenn man
sie noch nie ein Orchester dirigieren sah. Der eloquenten, dynamischen und kreativen
Zürcher Dirigentin ist die Wiederentdeckung Schweizer Klassiker zu verdanken,
zumindest für Sinfonieorchester. Sie ist die Gründerin und künstlerische Leiterin
des Swiss Orchestra mit Residenz in Andermatt. Im Gespräch in der Barchetta Bar
des Hotels Storchen in Zürich spricht sie über die Entstehung ihres Orchesters,
den Fokus auf vernachlässigte Schweizer Sinfonik und die Motivation hinter all
ihren Stunden in den Archiven und Bibliotheken.

Text: Matej Mikusik   |   Fotos: Dominic Büttner

Lena-Lisa Wüstendörfer verfügt über ein beachtliches Palmarès. 1983 in Zürich in eine kulturell-künstlerische Familie geboren – ihr Vater, Edzard Wüstendörfer, war Schauspieler am Schauspielhaus Zürich, ihre Mutter Simul­tandolmetscherin – ist sie heute Music Director des Swiss Orchestra und auch der kreative Kopf von Andermatt Music. Nebst dem Wirken in der Schweiz wären da auch noch Gastauftritte etwa beim Thailand Philharmonic Orchestra, der Copenhagen Philharmonic oder auch im Frankfurter Opern- und Museumsorchester.
Sie studierte an der Hochschule für Musik in Basel Violine und Dirigieren und zudem an der Uni Basel Musikwissenschaft – promoviert hat Wüstendörfer zu Gustav Mahler – und Volkswirtschaft. Zu ihren grossen Mentoren kommen wir noch. 

Nicht viele aus dem Kulturbetrieb schaffen es, so ein Start-up wie das Swiss Orchestra auf die Beine zu bringen, privat finanziert notabene. Lena-Lisa Wüstendörfer ist es zu verdanken, dass die Musik der Klassik von Schweizer Komponistinnen und Komponisten eine kleine Renaissance erlebt. Dank unzähliger Stunden in Archiven und Bibliotheken, beim Transkribieren der Noten, dem Edieren von Partituren. «Das ist die nötige Vorarbeit, um diese Musik wieder zum Leben zu erwecken.» 

Komponisten wie Jean Baptiste Édouard Dupuy aus Neuenburg, Johann Carl Eschmann aus Winterthur – nebenbei gesagt ein Bekannter Richard Wagners – oder Franz Xaver Schnyder von Wartensee, Joseph Stalder aus Luzern und auch etwa den Basler August Walter hat sie ins kollektive Schweizer Musikgedächtnis zurückgehievt. Aktuell ist Lena-Lisa Wüstendörfer sehr begeistert von Hans Hubers Tell-Sin­fonie, mit der das Orchester im nächsten Herbst auf Tournee gehen wird. «Das ist ein kraftvolles Stück», sagt sie. Man darf gespannt sein. 

Lena-Lisa Wüstendörfer, um gleich mal mit der Tür ins Haus zu fallen: Was macht Andermatt als Standort für Andermatt Music und das Swiss Orchestra so besonders? 

Andermatt ist ein Ort im Aufbruch, in dem ständig Neues entsteht und der sich immer weiterentwickelt. Teil dieser Entwicklung zu sein mit Andermatt Music, dem ersten alpinen Ganzjahres-Konzertveranstalter, ist für mich sehr spannend und bereichernd. Zudem ist Andermatt als Knotenpunkt verschiedener Sprachregionen im Herzen der Schweiz ein idealer Ort für das Swiss Orchestra, das Schweizer Musik-Geschichten wieder salonfähig macht. 

Wie kam die Verbindung zwischen Ihnen, also dem Swiss Orchestra, und Andermatt zustande? 

Samih Sawiris fragte mich, ob ich mir vorstellen könne, die Leitung seines Konzertbetriebs in Andermatt zu übernehmen. Gleichzeitig wurde das Swiss Orchestra, das ich 2018 mitbegründet habe, das Residenzorchester der Andermatt Konzerthalle mit 420 Sitzplätzen. Für diese Verknüpfung spricht vieles: Das Swiss Orchestra mit seiner Grösse von etwa 55 Musikerinnen und Musikern passt ideal in die Halle, die im Herzen der Schweiz liegt und einen Fokus auf Schweizer Sinfonik sinnfällig macht. Zudem sind das Orchester und die Konzerthalle vergleichbar jung.

Was machen Sie mit dem Swiss Orchestra anders als alle anderen? 

Das Swiss Orchestra ist das einzige Berufs­or­chester, das regelmässig national in der Schweiz aktiv ist und dabei Sprachgrenzen über­schreitet. Unser Fokus liegt auf der Schweizer Sinfonik, insbesondere der Klassik und Romantik, das heisst Orchestermusik des langen 19. Jahrhunderts. Diese Musik fand in der Schweizer Kulturgeschichte bisher fast keine Beachtung. Das Swiss Orchestra und ich wollen diese vergessenen Werke wiederentdecken.

Das ist Ihnen bisher gut gelungen. Wie gestaltet sich denn die Programmplanung von Andermatt Music und die Zusammenarbeit mit Samih Sawiris?

Ich habe in der künstlerischen Planung des Programms von Andermatt Music grösstmögliche Freiheit, das schätze ich sehr. Ausser­gewöhnliche Programme bespreche ich aber sehr gerne auch gemeinsam mit Samih Sawiris. 
Der Austausch und die Perspektive von aussen sind spannend und hilfreich. 

Warum ist die klassische und romantische Schweizer Sinfonik so unbekannt?

Die gängigen Auftraggeber von Komponisten waren in der Klassik und Romantik vor allem Adelshäuser, Mäzene oder die katholische Kirche. Die Schweiz hatte im Vergleich zu ihren Nachbarländern jedoch keine Fürstenhäuser und Könige und besass auch keine starke katholische Kirche – es war kaum jemand da, der den anderen mit dem besten Hofdichter, Hofmaler oder eben auch Hofkomponisten oder Domkapellmeister übertrumpfen konnte. Da es in der Schweiz schwierig war, als Komponist seinen Lebensunterhalt zu verdienen, wirkten erfolgreiche Schweizer Komponisten entweder im Ausland oder komponierten in der Schweiz neben ihren Anstellungen als Musikpädagogen, Pianisten, Dirigenten oder ihrem Wirken als kulturpolitisch wichtige Persönlichkeiten. Heute konzentriert sich die Musikförderung in der Schweiz zudem primär auf zeitgenössische Kompositionen. Das musikalische Erbe ihrer Vergangenheit hat die Schweiz nicht richtig präsent.

Warum hat die klassische Musik heutzutage einen eher schweren Stand? Das Publikum in den Konzertsälen wird immer älter, ja, es stirbt bald aus, wenn es so weitergeht – so könnte man das zugespitzt konstatieren. Oder nicht?

Ich denke, die Situation ist nicht ganz so drastisch: Dass das Publikum immer älter wird, hat auch damit zu tun, dass unsere Gesellschaft immer älter wird. Und die ältere Generation hat auch mehr Zeit, häufiger an ein Konzert zu gehen. Musikvermittlung, die Jugendliche an klassische Musik heranführt, wird in den meisten Kulturinstitutionen heute grossgeschrieben. Ich glaube, mindestens ebenso wichtig wäre aber, dass Kinder und junge Heranwachsende während ihrer Schulzeit mit klassischer Musik in Berührung kommen. 

Der Besuch eines klassischen Konzerts, in dem sie die Wucht und Emotionen eines grossen Konzertsaals live und mit Gänsehaut erleben und von Mozarts und Beethovens Musik kosten können, sollte zum regulären Schulstoff gehören. Die musische Bildung findet leider immer mehr privat statt, das führt zu Ungleichheiten. 

War das bei Ihnen so?

Ja. Meine Mutter hat mich und meine Brüder sehr oft in Opern und klassische Konzerte mitgenommen. So hatten wir die Chance, für uns zu entdecken, welche Musik uns besonders gut gefiel und welche weniger. Als ich das erste Mal in einem Orchesterkonzert sass, war es um mich geschehen. Diese Begeisterung will ich auch meinem Kind nicht vorenthalten.

«Das ist die nötige Vorarbeit,
um diese Musik wieder zum
Leben zu erwecken.»

Zurück zu Ihrem anderen «Kind». Wie finanziert sich das Swiss Orchestra und welche Herausforderungen bestehen dabei? 

Das ist eine sehr gute Frage. Wir finanzieren uns hauptsächlich durch Ticketeinnahmen, Beiträge von Stiftungen und privaten Mäzenen und Partnern. Im Gegensatz zu den städt­ischen Sinfonieorchestern in der Schweiz können wir nicht auf direkte Fördergelder der öffentlichen Hand bauen, da die staatliche Musikförderung stark föderalistisch geprägt ist und ein national ausgerichtetes Orchester hier nicht vorgesehen ist. Die Musikförderung des Bundes konzentriert sich im klassischen Bereich auf zeitgenössische Kompositionen und da ist das Wiederentdecken älterer Schweizer Werke nicht vorgesehen. Die Finanzierung ist daher ein Thema, das uns ständig beschäftigt.

Vielleicht ist es für die Frage noch zu früh, aber was waren die Highlights in Ihrer Karriere bisher?

Für mich sind das in Bezug auf das Swiss Orchestra etwa das wachsende Interesse und die Aufnahmen unserer Konzerte durch Radio SRF 2 Kultur sowie Auftritte im Ausland, beispielsweise in Spanien, Deutschland oder in der beeindruckenden Maraya Concert Hall in Saudi-Arabien, deren Spiegelarchitektur mitten in der Wüste unglaublich ist. Auch das Entdecken immer neuer Aspekte der Schweizer Musikgeschichte zusammen mit meinem Team und mit dem Orchester gehören zu den besonders schönen Momenten meiner Arbeit. Und natürlich auch die Spielfreude der Musikerinnen und Musiker im Swiss Orchestra.

Sie durften Ihre Lehrzeit als Dirigentin bei grossen Namen machen, insbesondere bei Claudio Abbado und Sir Roger Norrington. Wie hat Sie das geprägt?

Die Assistenzstelle bei Claudio Abbado direkt nach meinem Studium war ein Sprung ins kalte Wasser und eine grossartige, prägende Erfahrung. Ich durfte da sehr viel über Orchester­klang und die Zusammenarbeit mit hochqualifizierten Musikerinnen und Musikern lernen. Abbado war ein Klangmagier, seine Fähigkeit, extreme dynamische und emotionale Kontraste zu erzeugen – das beeindruckte mich tief. Die Zusammenarbeit mit Sir Roger Norrington war ebenfalls ausser­ordentlich spannend und lehrreich, insbesondere im Bereich der historischen Aufführungspraxis. Beide Persönlichkeiten ermöglichten es mir als junge Dirigentin, wichtige Fragen zu stellen und wertvolle Einblicke zu gewinnen.

Eine letzte Frage: Was sind die Visionen für die Zukunft des Swiss Orchestra?

Ein hochgestecktes Ziel ist, eine Renaissance der Schweizer Sinfonik herbeizuführen und dazu das Orchester nachhaltig zu etablieren, auch im Ausland. Ein weiteres Anliegen in Zusammenhang mit der Schweizer Musik­kultur ist mir, diese gesamtheitlich zu denken und die Brücke zwischen Klassik und anderen Musikgenres wie Pop und Volksmusik zu schlagen. Zum Beispiel wie am zweitägigen Festival «The Bash» von Andermatt Music. Letztes Jahr traten dort etwa Stephan Eicher oder auch The Kruger Brothers mit ihren Banjos gemeinsam mit dem Swiss Orchestra auf. Dieses Jahr wird am 25. Oktober der Mundart-Rapper Bligg zum ersten Mal solo mit Sinfonieorchester auftreten.

TOUR #12: «TELL, SWISS LEGEND»

Beteiligte
Swiss Orchestra
Lena-Lisa Wüstendörfer, Leitung
Olga Scheps, Klavier 

Konzerttermine und -orte
Freitag, 21.11.2025: Tonhalle St. Gallen
Samstag, 22.11.2025: Tonhalle Zürich
Sonntag, 23.11.2025: Casino Bern

Konzertprogramm
Gioachino Rossini: Ouvertüre zu «Wilhelm Tell» 
Pjotr Iljitsch Tschaikowski: Klavierkonzert Nr. 1 b-Moll op. 23  
Hans Huber: Sinfonie Nr. 1 d-Moll op. 63 («Tell-Sinfonie»)